Vincent Keymer – Vom Wunderkind in die Weltspitze

Vincent Keymer – Vom Wunderkind in die Weltspitze

Vincent Keymer hat mit dem Sieg in Chennai den Sprung in die Top 10 der Weltrangliste geschafft – als erster Deutscher seit Robert Hübner. Für den deutschen Schachsport ist das ein historischer Moment. Grund genug, den Lebensweg dieses außergewöhnlichen Talents nachzuzeichnen.

Mit seinem Sieg beim Chennai Grand Masters im August 2025 hat Vincent Keymer einen historischen Schritt vollzogen: Zum ersten Mal rangiert der 20-Jährige in den Top 10 der Weltrangliste. Für den deutschen Schachsport ist dies ein Meilenstein, denn seit Robert Hübner hat kein Spieler aus Deutschland diese Region erreicht - bis auf Elisabeth Pähtz, deren beste Platzierung Rang 10 der Frauenweltrangliste war. 

Grund genug, auf den Werdegang dieses Ausnahmetalents zurückzublicken, das innerhalb von anderthalb Jahrzehnten vom fünfjährigen Anfänger zum etablierten Super-Großmeister wurde.


Frühe Jahre und erste Erfolge

Vincent Keymer wurde am 15. November 2004 in Mainz geboren und wuchs im rheinhessischen Saulheim in einer Musikerfamilie auf. Mit vier Jahren erhielt er zunächst Klavierunterricht, ehe er mit fünf von seinen Eltern das Schachspiel lernte, nachdem er zu Hause ein Brett entdeckt hatte. Schon früh zeigte sich seine außergewöhnliche Begabung: Bei Welt- und Europameisterschaften der Jugend erreichte er Platzierungen unter den besten Sechs.

2014, im Alter von neun Jahren, wurde er zum zweiten Mal deutscher U10-Meister – diesmal mit einem 100%-Ergebnis. Bald darauf wurde er in die deutsche U18-Nationalmannschaft berufen und gewann 2015 und 2017 die Mannschafts-Europameisterschaft. Parallel dazu war er weiterhin musikalisch erfolgreich und errang Preise im Fach Klavier.


Der Weg zum Internationalen Meister

Im Juli 2017 erreichte Keymer bei der Deutschen Meisterschaft in Apolda mit dem vierten Platz seine dritte IM-Norm. Mit nur zwölf Jahren war er damit der jüngste deutsche Internationale Meister. In dieser Zeit spielte er für den SK Gau-Algesheim in der Oberliga Südwest.

Zur Saison 2017/18 wechselte Keymer zum Verein SF Deizisau und wurde in der Schachbundesliga für die erste Mannschaft aufgestellt. In seiner ersten Saison an Brett 11 erzielte er 5 Punkte aus 11 Partien.

Seit November 2017 wird Keymer vom ungarischen Großmeister Péter Lékó trainiert, dem früheren WM-Finalisten, der seine Entwicklung bis heute begleitet. Schon ein Jahr zuvor hatte sich Garri Kasparow über das deutsche Talent geäußert und gemeint, er traue Keymer den Vorstoß in die Weltspitze zu – eine frühe Prophezeiung, die sich Schritt für Schritt erfüllte.

Elo-Kurve von Vincent Keymer (Quelle: FIDE)


Sensation in Karlsruhe und der Weg zum Großmeistertitel

Im April 2018 sorgte Keymer für internationales Aufsehen: Beim GRENKE Chess Open in Karlsruhe und Baden-Baden gewann er mit 8 Punkten aus 9 Runden vor 49 Großmeistern. In der Schlussrunde bezwang er den Weltklassespieler Richárd Rapport mit den schwarzen Steinen. Seine Turnierleistung von 2795 Elo war die höchste, die jemals ein Spieler unter 14 Jahren erreicht hatte. Mit diesem Sieg qualifizierte er sich für das GRENKE Chess Classic 2019 und sicherte sich seine erste GM-Norm.

Im Juli 2018 folgte beim Xtracon Open in Helsingør die zweite GM-Norm, die er bereits zwei Runden vor Schluss sicherstellte. Im Oktober 2019 erfüllte er beim Grand Swiss auf der Isle of Man schließlich die dritte Norm. Zwar hatte er zuvor beim GRENKE Chess Classic 2019 in Karlsruhe, bei dem er unter anderem gegen Magnus Carlsen antrat, noch Lehrgeld bezahlt und den letzten Platz belegt – doch seine zähe Partie gegen Carlsen, die fast sieben Stunden dauerte, zeigte, dass er auch gegen den Weltmeister bestehen konnte.

Im Februar 2020 verlieh ihm die FIDE den Großmeistertitel. Mit 14 Jahren, elf Monaten und vier Tagen war er damit der jüngste deutsche Großmeister aller Zeiten. Weltweit stand er zu diesem Zeitpunkt auf Platz 35 der jüngsten Titelträger.


Jugendjahre zwischen Schule und Spitzenschach

Während viele Konkurrenten seines Alters bereits Profis waren, besuchte Keymer weiterhin das Gymnasium Nieder-Olm. Der Spagat zwischen schulischer Ausbildung und internationalen Turnieren prägte diese Jahre. Schachspieler als Beruf sei in Deutschland nicht vorgesehen, äußerte er gegenüber der ZEIT: 

2021 gelangen ihm dennoch große Erfolge: Bei der Einzel-Europameisterschaft in Reykjavik wurde er mit 16 Jahren Vize-Europameister. Beim FIDE Grand Swiss in Riga im Herbst desselben Jahres erreichte er mit 7 Punkten aus 11 Partien den 5. Platz. Dabei gelangen ihm Siege gegen David Navara und Kirill Aleksejenko. Durch dieses Resultat qualifizierte er sich für den FIDE Grand Prix 2022 – ein deutliches Signal, dass das einstige Talent nun auf der großen Bühne angekommen war.


Etablierung in der Weltspitze

2022 wurde zum Wendepunkt. Keymer gewann das Challengers-Turnier beim Prager Schachfestival und das German Masters. Im Juni besiegte er im Playoff Hans Niemann und sicherte sich so den Startplatz im Masters des Folgejahres. Seine Turnierleistung beim German Masters betrug 2785 Elo, mit einem Punkt Vorsprung vor Frederik Svane.

Im Dezember folgte der größte Erfolg bis dahin: Bei der Schnellschach-Weltmeisterschaft belegte er mit 9,5 aus 13 Punkten den zweiten Platz hinter Magnus Carlsen, vor Fabiano Caruana. Damit wurde er Vizeweltmeister und erreichte zum ersten Mal weltweite Aufmerksamkeit auch außerhalb der Schachszene.

2023 setzte er seine Entwicklung fort. Beim Schach-Weltpokal schaltete er Daniel Dardha und Amin Tabatabaei aus und traf in Runde 4 auf Carlsen. In der ersten Partie gelang ihm mit Weiß ein historischer Sieg gegen den Ex-Weltmeister, wenngleich er das Match im Tie-Break verlor. Keymer war der einzige Spieler des Turniers, der Carlsen eine reguläre Niederlage zufügen konnte. Im Grand Swiss desselben Jahres belegte er den 5. Platz, außerdem wurde er Zweiter beim Bieler Schachfestival und feierte mit der OSG Baden-Baden die Bundesliga-Meisterschaft. 

Mit der deutschen Nationalmannschaft holte er bei der Mannschafts-Europameisterschaft zudem die Silbermedaille:  

 

Beitrag zur Schachtheorie

Während der Pandemie spielte Vincent wie die meisten anderen Spieler auch viel Onlineschach. Dabei griff er gerne auf die Eröffnung 1. Sf3 d5 2. e3 zurück, mit der er die Theorievarianten nach 1. d4 vermied. Durch die ChessBase-DVD von Leon Luke Mendonca erhielt die Eröffnung erhielt den Beinamen "The Keymer Variation": 

 


Aufstieg in die Weltklasse

2024 gewann Keymer das Rubinstein Memorial. Er begann das Turnier mit fünf Siegen in Serie und sicherte sich den Titel bereits eine Runde vor Schluss. Seine Elo-Zahl stieg zeitweise auf 2743, womit er Platz 12 der Weltrangliste erreichte – seine bisher höchste Platzierung. Bei der Schachweltmeisterschaft 2024 war er Teil des Sekundantenteams von D. Gukesh, der Weltmeister wurde.


Großtaten im Jahr 2025

Im Februar 2025 gewann Keymer das Freestyle-Chess-Turnier in Gut Weißenhaus. In der Knock-out-Phase besiegte er nacheinander Alireza Firouzja, Magnus Carlsen und Fabiano Caruana. Damit erzielte er seinen bis dahin größten Erfolg und einen der bedeutendsten Siege eines deutschen Spielers in der Schachgeschichte. Wenige Monate später wurde er Deutscher Meister.

Im August 2025 folgte der nächste Meilenstein: Beim Chennai International Chess Tournament dominierte Keymer das Feld, stand schon vor der Schlussrunde als Turniersieger fest und bezwang dennoch in der letzten Runde Ray Robson. Mit seinem fünften Sieg in diesem Turnier verbesserte er seine Elo-Zahl um 20 Punkte und rückte in die Top 10 der Weltrangliste vor – als erster Deutscher seit Jahrzehnten. 

Trotz all dieser Erfolge bleibt Keymer bemerkenswert bodenständig und bescheiden. Nach seinem Sieg in Chennai bedankte er sich öffentlich in den sozialen Medien – nicht mit großen Worten, sondern schlicht mit Dank an seine Unterstützer und sein Team. 

Häufig wird Vincent von seinem Vater Christof begleitet, der ihn schon seit den frühen Jugendjahren fördert, und von seiner Freundin Stephanie, die ihm auch abseits des Brettes Rückhalt gibt.

Bild nach dem Finaleinzug in Weissenhaus im Februar 2025: Von links nach rechts: Vincents Freundin Stephanie, Vincent, Vincents Vater, IM Jonathan Carlstedt, Sven Noppes, Christian Bossert vom Schachzentrum Baden-Baden mit seiner Ehefrau (Foto: Marina Noppes, Chess Tigers)


Ausblick

Die kommenden Monate sind richtungsweisend. Vom 3. bis 15. September 2025 tritt Keymer beim Grand Swiss in Samarkand an. Im Oktober führt er das deutsche Nationalteam bei der Europamannschaftsmeisterschaft (5.–14. Oktober 2025) an. Danach steht der World Cup (31. Oktober – 27. November 2025) auf dem Programm.

Mit gerade einmal 20 Jahren hat Vincent Keymer bereits eine beeindruckende Liste an Erfolgen vorzuweisen – und steht doch erst am Beginn einer Karriere, die das deutsche Schach nachhaltig prägen könnte.


Größte Erfolge (Auswahl)

  • Sieger des Grenke Chess Open 2018

  • Zweiter Platz bei der Einzel-Europameisterschaft 2021

  • Sieger des Challengers beim Prager Schachfestival 2022

  • Sieger des German Masters 2022

  • Vizeweltmeister im Schnellschach 2022 (2. Platz hinter Magnus Carlsen)

  • Zweiter Platz beim Bieler Schachfestival 2023

  • Zweiter Platz bei der Mannschafts-Europameisterschaft 2023

  • Sieger des Akiba-Rubinstein-Memorials 2024

  • Sieger des Freestyle Chess in Weissenhaus 2025

  • Deutscher Meister 2025

  • Sieger des Chennai Masters 2025

 

Foto: Angelika Valkova für grenkeChess, 2025

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