10.12.2005 - Eigentlich waren indische und arabische Schachspieler um die erste Jahrtausendwende ganz pragmatisch eingestellt. Es gab damals schon eine Eröffnungstheorie und die diversen Varianten waren den Meistern des Schachs hinlänglich bekannt. So lag es auf der Hand, seine Zeit nicht mit allseits bekannten Eröffnungen zu verschwenden.
Eine Tabija (Plural Tabijen) ist eine besondere Eröffnungsposition im
indischen Shatranj. Bei Tabijen werden von Meistern des Shatranj
Positionen erarbeitet, von denen aus das Spiel begonnen wird. Quelle:
Wikipedia
Es war naheliegend, sich beim Schachspiel nicht
mit den ausgetretenen und sattsam bekannten Pfaden der Eröffnungstheorie übermässig lange zu beschäftigen, sondern die indischen und arabischen
Schachspieler wählten für ihre Schachpartien gleich eine Startstellung
aus, die am Ende der damals ausanalysierten Varianten lag. Der tschechische
Großmeister Ludek Pachmann weist in seinem Buch "Schach für Aufsteiger"
(Edition Olms, 2004) auf den Gebrauch der Positionsbildern, den Tabijen, hin: Die Spieler einer Schachpartien begannen nicht mit der
Grundstellung, sondern gleich mit der Schlußstellung der damals
bekannten Eröffnungstheorie, deren Positionen als "Tabija" (Tafel)
benannt wurde.
Man beschäftigte sich also nicht wie die großen
Physiker unserer Zeit mit dem Urknall des Universums, sondern begann mit
dem Schach am Rande des sich stetig ausdehnenden Universums. A propos Urknall:
"Am Anfang war eine Explosion. Aber keine
Explosion der gewöhnlichen Art wie wir sie von Vulkanausbrüchen auf der
Erde kennen, sondern eine Explosion, die überall gleichzeitig geschah: In
etwa einer Hundertstel Sekunde war die Temperatur des Universums
ungefähr Hunderttausend Millionen Grad Celcius heiß und das Universum
war gefüllt mit Elementarteilchen und Licht. Die Explosion dauerte an
und die Temperatur fiel stark ab. Am Ende der ersten drei Minuten
bestand das Universum aus Licht, Neutrinos und Anti-Neutrinos."
So
beginnt Steven Weinberg, Physiker und Nobelpreisträger, seine Erklärung
von der Entstehung des Universum. Und seit Einstein und Hubble die
Theorie des Urknalls seit 1915 weiter entwickelt haben ist das Modell
der stetigen Expansion des Universums zum geistigen Allgemeingut
geworden.
Am Ende des Universums: 6.300 Lichtjahre
entfernt finden Astronomen die Überreste einer
Supernova-Explosion, den Krabben-Nebel im Sternbild des Stiers. Der
nebelartige Überrest wurde 1731 von John Bevis entdeckt - doch
historische Überlieferungen aus China (Song-Dynastie, Liao
Dynastie), Japan, durch den arabischen Arzt Ibn Butlan, aus
Flandern, Irland und Rom datieren die Explosion der
Supernova auf den 11. April 1054
Der Urknall im Schach entwickelte sich
eigentlich nicht mit der Erfindung des Spiels, sondern eher Jahrhunderte
danach. Von den Wurzeln des Spiels in Asien wurde
Schach in Indien, im arabischen Kulturgebiet und später auch durch die
Mauren nach Europa gebracht, eine eher gemächliche Wanderung einer
Spiel-Idee.
Der Muslim und der Ritter: Schachspiel mit Tabija
Diese
Idylle änderte sich schlagartig im Jahre 1984 mit dem Bau des ersten Personal Computer: IBM, Bill Gates und Intel
schufen damals die Grundlage für moderne,
preiswerte und weitverbreitete Computer-Systeme und Datenbanken. Und bald waren auch rudementäre Schachprogramme auf den Apples, C64 und IBM PCs verfügbar. Wenn heute die
Hamburger Schachsoftware-Firma Chessbase eine Datenbanksammlung mit über 3,2 Millionen
Schachpartien anbietet, ist dies wie in der Astrophysik ein Zeichen dafür, daß
sich die bekannte Schachtheorie wie das Universum ständig ausdehnt.
Heutige Großmeister des Schachs und auch
ambitionierte
Vereinsamateure scheinen die pragmatischen Ansätze der
indisch-arabischen Vorgänger aus dem Gedächtnis verdrängen zu wollen,
wiederholen sie doch mit Vorliebe die sattsam bekannten
Eröffnungsvarianten - und einem Aufschrei gleich notieren
Kommentatoren einer Schachpartie dann das Kürzel "Neuerung", um der Welt zu signalisieren,
wann die beiden Kontrahenten denn endlich vom Pfad der bekannten Theorie
abgewichen sind und kreatives Neuland betreten haben.
Rückkehr der Spielfreude:
Junger Schachspieler bei seinem ersten Chess960-Turnier.
Foto: Thomas Schulze, Generators Communication
Die heutzutage gespielte Chess960-Variante
geht auf eine Idee des amerikanischen Grossmeister Bobby Fischer zurück,
der die Anfänge der Schachpartie wieder aus dem Dschungel der
Eröffnungstheorien führen wollte und nicht den Urknall des Universums
immer wieder nachspielen sollte. So ermöglicht
Chess960 mit den zufällig ausgelosten Startaufstellungen, kreatives Schach am Ende des (Theorie)-Universums zu
spielen. Die Spielfreude kehrt zurück.