Chess Classic Weltmeisterliche Schlafmützen am Brett und im Bett Bacrot gewinnt FiNet Open vor Mamedjarow und Grischuk / Aserbaidschaner stört sich nicht an zwei Patzern: „Ich bin froh, noch am Leben zu sein!“
18.08.2006 - Etienne Bacrot hat ungeschlagen das FiNet Chess960 Open gewonnen. Der französische Weltklassespieler lag mit 9,5:1,5 Punkten vor 248 Konkurrenten. Dafür kassierte er 45 Prozent der 7.500 Euro (3.375 Euro), die für das FiNet und Ordix Open zusammen ausgelobt werden. Bacrot stoppte in der neunten Runde den bis dahin acht Siege in Folge aneinander reihenden Schachrijar Mamedjarow. Der Weltranglistenzwölfte aus Aserbaidschan übersah ein primitives Matt mit Läufer und Dame, weil er mit Mehrqualität ein Remis vermeiden wollte. Anschließend verwechselte der 21-Jährige gedankenversunken gegen Alexander Grischuk Dame und Läufer. „Ich wollte mit der Dame meinen Läufer auf a3 decken. Deswegen stellte ich die Figur von d1 nach c1 – Grischuk machte mich darauf aufmerksam, dass der Zug unmöglich ist, weil auf d1 ein Läufer in der Ausgangsstellung stand“, berichtete Mamedjarow. Da der zweifache Ordix-Sieger auf einen Läuferzug beharrte, hätte Weiß den Läufer auf a3 eingebüßt und gab deswegen sofort im siebten Zug auf!
GM Shakhriyar Mamedjarow
Trotzdem blieb er mit 9:2 Zählern vor dem punktgleichen Russen. Die vermeidbaren Niederlagen und den verschenkten ersten Platz kommentierte Mamedjarow blendend gelaunt: „Ich bin froh, dass ich noch lebe. Zwei Tage vor meiner Abreise nach Mainz war ich in einen schweren Autounfall in Baku verwickelt!“ Den Patzer gegen Bacrot deklarierte er zu einem „üblichen Patzer“ und verwies auf ein Turmendspiel mit fünf gegen vier Bauern, in dem er in Reykjavik gegen Viswanathan Anand ein Selbstmatt konstruiert hatte. Chess960 gefällt Mamedjarow, kann er sich doch die Vorbereitung sparen und auf die faule Haut legen. „In Spanien wurde ich im April in einem Chess960-Turnier Erster“, berichtete der 21-Jährige.
Bacrot atmete auf, nachdem er gegen Grischuk die Dame zum Patt opfern konnte. „Grischuk ist für mich nie ein leichter Gegner, vor allem nicht mit Schwarz“, betonte der Turniersieger und analysierte die Spitzenpartie der letzten Runde, „ich hatte viel Glück, dass meine Tricks noch griffen. Das Patt im Damenendspiel sah ich schon bei Kxh5 voraus.“ Sein Kontrahent ärgerte sich. „Ich dachte, ich würde gewinnen. Nach dem Fehler mit d3 konnte ich zwar ein Dauerschach geben, aber das hätte mir nicht mehr zum ersten Platz gereicht.“ Um doch an Stelle Bacrots den nächsten Chess960-Weltmeister herausfordern zu dürfen, verzichtete der Vorjahres-Herausforderer von Anand auf ein Dauerschach und kämpfte mit nur zwei Bauern für einen Springer (jeder hatte auch noch eine Dame und weitere Bauern) mutig weiter. Als „schlechten Start“ wertete Grischuk die Niederlage in der fünften Runde gegen Pawel Tregubow. Ein Ausgleich sei allerdings Mamedjarows Schnitzer gewesen. Nach den zwei gelungenen Tagen glaubt Bacrot nicht an eine Fortsetzung seiner Serie. „Ich spiele immer nur an zwei der vier Tage in Mainz gut“, berichtete der Gallier und ergänzte schmunzelnd, „aber besser die zwei Tage habe ich in einem Turnier zusammen, anstatt wie zuvor meist jeweils verteilt auf das FiNet und das Ordix Open.“ Letzteres gedenkt dafür Mamedjarow zu gewinnen, kündigte er an – und wenn doch nicht: Er lebt weiter!
Als bester Deutscher kam Arkadij Naiditsch auf Platz vier. Der Dortmunder verbuchte 8,5:2,5 Punkte, war damit aber nicht zufrieden. „Ich habe die letzten zwei Partien nur remisiert“, klagte die nationale Nummer eins. Immerhin hatte er vorher aber Spieler wie Topfavorit Alexander Morosewitsch in die Knie gezwungen. Dank der besseren Feinwertung lag der russische Weltranglistenneunte vor Andrej Wolokitin (Ukraine), Gabriel Sargissian (Armenien), Witali Golod (Israel), dem für Bindlach Aktionär spielende Frankfurter Klaus Bischoff und Pentala Harikrishna. Wie schon bei den 4/4 gegen Naiditsch bei der U20-WM trumpfte der Großmeister aus Hydrabad auch im FiNet Open am zweiten Tag groß auf. Aus 3/5 machte er 8,5/11. Als ihm die Fans aus dem Presseraum ihre Enttäuschung kundtaten, dass er ein Remis abgab und nicht 6/6 holte, amüsierte Harikrishna. Aus Altersgründen wird Naiditsch den Inder nicht noch einmal in der U20-WM fordern dürfen. Titelverteidiger Harikrishna wird allerdings auch 21 und müsste gegen den gleichaltrigen Wolokitin antreten. Was lässt sich Organisator Hans-Walter Schmitt dazu einfallen? Wird die U20 zur U21 umfirmiert? Das könnte künftig nahtlos fortgesetzt werden, bis der dann 40fache Chess960-Weltmeister Harikrishna direkt in die Senioren-Klasse rochiert. Dort könnte anno 2046 der 102-jährige Vlastimil Hort warten …
Apropos: Im Chess960-Open kam er am Morgen zu spät zur Runde. „Ich trank noch eine zweite Runde Kaffee, weil ich nicht wusste, dass es um 10 Uhr losgeht“, berichtete der gebürtige Tscheche im Singsang des „braven Soldaten Schwejk“. Seinen bei der Senioren-WM knapp unterlegenen Kontrahenten Lajos Portisch konnte Hort im Spielsaal auch nicht entdecken. Deshalb rief er diesen auf seinem Hotelzimmer an. Der aus dem Schlaf geschreckte Ungar hörte sich die Klage über die kampflose Niederlage des Oberhauseners gegen den Russen Jewgeni Barejew an. Danach erkundigte er sich, offensichtlich noch nicht ganz Herr seiner Sinne, bei Hort: „Aber was ist mit meiner Partie?“ Der wegen seines Humors geliebte TV-Kommentator scherzte am Telefon: „Lajos, es kann sein, dass du vielleicht auch verloren hast …“ Für die beiden Schlafmützen gab es jedoch ein Happyend: Hort gewann vor Portisch (beide 6,5:4,5 Punkte) die Senioren-Wertung des Opens, so dass der Ungar 2007 seinen Kameraden wieder im WM-Finale im Chess960 herausfordern darf.
GM Alexandra Kosteniuk
Standesgemäß wie Hort hat auch Alexandra Kosteniuk die Damen-Wertung für sich entschieden. Die Russin wies die deutlich beste Fortschrittswertung auf. Wie die Weltranglistendritte kamen auch Natalia Schukowa und der jungen Ungarin Anita Gara auf sieben Zähler. Die Ukrainerin trifft somit nächstes Jahr auf Kosteniuk bei der Clerical Medical Chess960 WM der Frauen. Ihre Chancen vergaben zum Teil in der Schlussrunde Viktorija Cmilyte (Lettland), Inna Gaponenko (Ukraine), Elisabeth Pähtz (Erfurt) und Zha Qin Peng (Niederlande/alle 6,5). Die Australierin Arianne Caoili kam wie Garas Schwester Ticia auf 5/11. Bei den Senioren folgten hinter Hort und Portisch Lev Gutman, Klaus Klundt und Anatoli Dontschenko (alle 6). Lew Bogojawlenskij holte 4,5 Punkte – beachtlich, bedenkt man, dass er mit 83 der älteste Teilnehmer im Feld war. In der U20 lagen der gut gestartete Csaba Balogh und sein ungarischer Landsmann Krisztian Szabo (beide 7) eineinhalb Punkte hinter Wolokitin und Harikrishna.