Chess Classic Vorbild für Jan Ullrich: Grischuk strampelt sich im Nebenturnier für Schnellschach-Weltmeister Anand warm Mit allen Partien zum Nachspielen
27.08.2005 - Jan Ullrich hätte besser nach der Hälfte der Tour de France abends immer noch ein kleines Radkriterium fahren sollen – um endlich ein paar Siege zu landen und ein Gefühl dafür zu bekommen, wie man einen übermächtigen Gegner in die Knie zwingt. Die These klingt albern – bei der Schnellschach-Weltmeisterschaft tat aber Alexander Grischuk genau dies gegen den Lance Armstrong des Schachspiels: Der Russe lag gegen Viswanathan Anand zur Halbzeit der Chess Classic Mainz mit 0,5:3,5 hoffnungslos in Rückstand. Der achte Erfolg war dem schnellen Brüter aus Indien nur noch theoretisch zu nehmen.
Zu GrischukShirt: Abends gediegen im Anzug,
tagsüber im Open im roten T-Shirt: Alexander Grischuk. Fotos: Metz
Daher meldete sich Grischuk kurzerhand am
Samstagmorgen beim Ordix Open an, dem weltweit stärksten offenen
Schnellschach-Turnier. „Ich dachte, der Tag würde zu langweilig werden,
wenn ich nur auf den Beginn des Zweikampfs am Abend warte“, begründete
der Moskauer und wollte keine Trübsal im stillen Kämmerlein blasen. Die
fünf Partien im Open kosteten zwar Kraft – bescherten Grischuk
allerdings auch „nach drei Monaten ohne Turnier und Sieg wieder ein
Gefühl dafür, wie man eine Partie gewinnt“. Diese Kunstfertigkeit
rettete der 21-Jährige dann sogar hinüber ins Match gegen den
Weltranglistenersten. Mit einem Remis und seinem ersten Sieg verkürzte
der junge Russe auf 2:4. Nicht nur deswegen konnte Anand den
ungewöhnlichen Schritt seines Herausforderers nachvollziehen. „Bei so
einem Stand fällt einem im Hotelzimmer die Decke auf den Kopf. Da will
man raus und nur vergessen“, befand Anand und erinnerte sich an eine
ähnliche Erfahrung bei einer Weltmeisterschaft, bei der er in der ersten
Partie gegen einen Amateur sensationell verlor. Anschließend verweilte
der Baden-Badener Bundesligaspieler „doppelt so lange im Fitnessstudio
wie sonst“ und wendete das Blatt bei der WM.
Grischuks Entscheidung, sich in die Masse der
546 Open-Teilnehmer einzugliedern, und die klare Führung drängten Anand
psychologisch in die Defensive. „Nach dem glücklich zu Stande gekommenen
3,5:0,5 fiel bei mir die Anspannung ab, so dass Grischuk leichter ins
Match zurückkommen konnte. Ich dachte nur noch daran, wie ich 4,5 Punkte
erreiche“, resümierte der „Tiger von Madras“. Den sechsten Erfolg in
Serie im Schnellschach-Mekka machte der 35-Jährige dann auch vorzeitig
in der siebten Runde mit dem 5:2 perfekt. Doch hierbei musste der
Kontrahent, der konsequent einem Unentschieden durch dreifache
Zugwiederholung auswich, helfen. Im letzten Duell trumpfte Grischuk
erneut auf und verkürzte in einer selbst den unterlegenen Anand
begeisternden Partie zum 3:5-Endstand.
Der Mainzer Rekordsieger erhielt nach sieben
schwarzen Jacketts diesmal ein weißes Jackett von Organisator
Hans-Walter Schmitt übergestreift. Ein Hauch des indischen „Bollywood“
wehte durch die Rheingoldhalle: „Meine Frau Aruna freute sich schon
heute Morgen darauf. Damit würde ich fast wie ein Filmstar aussehen,
glaubt sie“, berichtete der alte und neue Schnellschach-Weltmeister
schmunzelnd in seiner in deutsch gehaltenen Dankesrede. Aber auch
Grischuk war zufrieden und „bedauerte seinen Schritt, im Ordix Open
mitzuspielen, keine Sekunde“. Nach den Siegen 2003 und 2004, die ihn zur
Herausforderung von Anand berechtigten, verpasste der
Weltranglistenelfte diesmal hauchdünn den Hattrick. In der 29. Partie
riss die Serie, Grischuk kassierte seine erste Open-Niederlage gegen
Landsmann Alexej Drejew und belegte mit 9:2 Punkten den geteilten
zweiten Platz. Das 18-jährige aserbaidschanische Toptalent Teimour
Radjabow empfahl sich derweil mit 9,5:1,5 Zählern für ein Match gegen
Anand. Doch wer soll den „Tiger von Madras“ stoppen? „Ich habe ihn
gefragt, ob er sich an ein verlorenes Schnellschach-Match erinnern kann
– Anand wusste von keinem“, erzählte der als Achter beste Deutsche im
Ordix Open, der 19-jährige Dortmunder Arkadij Naiditsch, beeindruckt.
Nachstehend die Chronologie der Ereignisse Tag für Tag.
Zu Naiditsch: Dortmund-Sieger Arkadij
Naiditsch zeigt sich beeindruckt von Anands Schnellschach-Künsten.
1. Tag: Anand führte zwar in der ersten Partie
der Schnellschach-Weltmeisterschaft die schwarzen Steine – dieser kleine
Nachteil hinderte den Inder aber nicht daran, seinen Herausforderer
Grischuk zu überrennen. Der 21-jährige Russe stand auch in der
abwechslungsreichen zweiten Partie, in der beide auf Königsjagd gingen,
auf verlorenem Posten. Grischuk trauerte verpassten Chancen im ersten
Vergleich der GrenkeLeasing Championship nach. „Meine Idee mit b5 und b4
war nicht korrekt“, resümierte Anand, danach sei er schlechter
gestanden. Lediglich die „provozierte Schwächung g3“ gab ihm Hoffnung
durch „taktische Möglichkeiten zu entwischen“. So kam es auch bei
knapper Bedenkzeit mit einer Minute und weniger für Grischuk und knapp
drei Minuten auf Anands Uhr. „Mit Dd1 und Dg4 hätte ich eine
Zugwiederholung gehabt, die ich auch genutzt hätte, wenn Grischuk wieder
mit dem Turm von f4 nach f1 zurückweicht. Ich hätte noch eine Minute
investiert, um zu sehen, ob es eine bessere Fortsetzung gibt, und diese
dann gespielt.“ Der tapfere Herausforderer verzichtete jedoch auf den
Turmrückzug und wurde dafür bestraft. Im zweiten Duell rückten die
weißen Bauern am Königsflügel schneller auf den schwarzen Monarchen zu
als die schwarzen Bauern auf den weißen König am Damenflügel. „Die waren
ein bisschen langsam“, meinte Anand und sah sich nach seinem Bauernzug
nach b4, auch wenn der den eigenen König angreifbarer zu machen schien,
auf der Siegerstraße. Grischuk opferte noch wild, ehe die Attacke im
Sand verlief und er aufgab.
Unerbittlich nutzte Viswanathan Anand
(rechts) jede Schwäche von Alexander Grischuk.
2. Tag: Anand baute seinen Vorsprung bei der
Schnellschach-WM weiter aus. Zur Halbzeit des Wettkampfs liegt der Russe
Alexander Grischuk nach einem Remis und der dritten Niederlage im
vierten Duell mit 0,5:3,5 zurück. Der 21-Jährige stand bei der
Pressekonferenz noch immer unter Schock: „Die Presse wird schreiben,
dass Vishy Glück hatte – aber das ist Bullshit! So wie ich spiele,
verdiene ich es nicht besser“, ging der verzweifelte zweifache
Ordix-Open-Sieger der Jahre 2003 und 2004 hart mit sich ins Gericht. Die
vier ausstehenden Partien bei der GrenkeLeasing Championship kann
Grischuk höchstens noch zur Resultatskosmetik nutzen. Vorsichtig wie
stets kommentierte der „Tiger von Madras“ jedoch: „Natürlich ist die
Drei-Punkte-Führung ein Ruhekissen – aber es ist besser, sich nicht auf
dem Polster auszuruhen und den Gedanken daran zu vertreiben.“
Die dritte Partie des Zweikampfs wirkt nur auf
den ersten Blick wie ein lustloses Remis nach 24 Zügen. „Vishy hat wohl
15…Sxg4 übersehen. Danach steht Schwarz ganz passabel. Mit 16.Lg3 wählte
er die komplizierteste Fortsetzung.“ Das kann man wohl sagen: In der
Folge opferte erst Anand im 20. Zug die Dame, die Grischuk drei Züge
später wieder gleich zurückgab. Im vierten Duell geriet der
Weltranglistenelfte in erneute Zeitnot, die ihn letztlich den vollen
Punkt kostete. Die Nummer eins auf dem Globus war einmal mehr viel
schneller als der Herausforderer und hatte am Schluss noch rund sieben
Minuten auf der Uhr. Grischuk unternahm mit nur noch ein paar Sekunden
ein Verzweiflungsopfer, um nach einem letzten Schach im 42. Zug
aufzugeben. „Wir brauchen gar nicht darüber zu diskutieren, wo ich was
verpasst habe. Ich hätte alles Mögliche spielen können – aber Hauptsache
schnell!“, verwies Grischuk auf sein Hauptmanko. Beispielsweise ist
34.Sxe6 viel stärker, weil Kxh7 wegen 35.Sxc5 ungeachtet des
Qualitätsgewinns positionell hoffnungslos ist. Anand beabsichtigte
stattdessen 34…Dxe6, was vielleicht noch gerade zum Remis reicht.
„Alexander trug den Angriff sehr gut vor. Ich stand ungeachtet des
Mehrbauern äußerst unangenehm. Er spielte heute besser“, räumte der
Inder nach der Gratwanderung ein.
3. Tag: „Stimmt, ich bin enttäuscht“, räumte
Alexander Grischuk mit einem Lächeln ein. Der Russe wurde bei der
Pressekonferenz nach dem dritten Tag der Schnellschach-WM ironisch
gefragt, ob er „mächtig enttäuscht“ sei. Schließlich habe er heute in
seinen sieben Partien doch tatsächlich ein Remis abgegeben – wenn auch
gegen Viswanathan Anand. Der Weltranglistenerste durchbrach die Serie
Grischuks, der beim Ordix Open fünf Partien in Folge gewonnen hatte.
„Die erste war dabei die schwerste“, befand der Russe mit Blick auf den
127-zügigen Erfolg in einem Remis-Turmendspiel über den 14-jährigen
Saarbrücker Reinhold Müller. Die fünfte Begegnung der GrenkeLeasing
Championship war die einzige langweilige. Nach 22 Zügen waren sich die
beiden Großmeister einig, dass sich das Unentschieden kaum abwenden
lässt. Anand hatte auch deswegen nichts dagegen einzuwenden, weil er
somit 4:1 in Führung ging. Nur noch ein Remis fehlte dem siebenmaligen
Mainz-Sieger zum achten Erfolg. Das blieb ihm jedoch im sechsten
Durchgang verwehrt. „Das war eine der Partien, die nicht passieren
sollten, aber gelegentlich doch passieren“, meinte der Inder. Zunächst
ließ er den weißfeldrigen Läufer des Schwarzen leicht ins Spiel kommen,
machte so aus einer Sizilianischen Verteidigung einen guten „Franzosen“
und opferte den c2-Bauer. Dass er sich auch in der Folge zu wenig ans
Material klammerte, wurde Anand zum Verhängnis. Grischuk schnappte sich
einen zweiten Bauern und verwertete diesen sicher zu seinem ersten Sieg
gegen den Schnellschach-Weltmeister. Anand wirkte trotz der Niederlage
in 49 Zügen sehr gelassen. Ein Remis aus zwei Begegnungen sollte er noch
allemal holen, um den Titel in der Mainzer Rheingoldhalle zu
verteidigen.
Bleibt die Supermacht im Schnellschach:
Viswanathan Anand.
4. Tag: Anands Gesamtsieg stand bereits nach
sieben der acht Partien fest. Der Inder konnte angesichts einer
5:2-Führung die Schlussrunden-Niederlage gegen Grischuk leicht
verkraften. In der siebten Partie, in der es gleich drei Qualitätsopfer
gab, verzichtete der 21-Jährige auf eine dreifache Zugwiederholung, weil
„ein Remis oder eine Niederlage beim Gesamtstand keinen Unterschied
machte“. Die letzte Begegnung der GrenkeLeasing Championship bezeichnete
der 35-jährige Sieger als „wundervoll, auch wenn ich verlor. Ich
unterschätzte die weißen Chancen und konnte gedanklich nicht von einer
Gewinnstellung auf eine Remisabwicklung umdisponieren“. Grischuk war
zwar „nicht mehr richtig motiviert“, wollte aber auch „kein Remis
machen. Und dann geschah das Wunder: Ich gewann die letzte Partie“.
Anand war voll des Lobes für seinen
Herausforderer. „Ich hatte ein enges Match erwartet und auf dem Brett
war es das auch. Lediglich das Ergebnis spricht eine andere Sprache. Der
Zweikampf bescherte den Fans zahlreiche gute Partien“, befand der Inder.
Grischuks „romantische Ader sagt, dass Vishy glücklich gewann. Meine
realistische Ader befindet jedoch, er siegte wegen seines richtigen
Trainings und seiner Praxis – und verdiente sich deshalb den Sieg“.
Organisator Hans-Walter Schmitt zog zufrieden Fazit nach den zwölften
Chess Classic: „Das war eine perfekte Veranstaltung mit vielen
Höhepunkten. Wir sahen aufregende Zweikämpfe mit guten Spielern. Mir
gefielen besonders die Open mit Teilnehmern wie Etienne Bacrot, Levon
Aronjan und anderen Weltklasseleuten. Mich freute es jedoch auch
besonders, dass viele deutsche Spieler den Weg nach Mainz fanden. Es
steht fest, dass Aronjan im nächsten Jahr Swidler herausfordert. Ob
Ordix-Open-Sieger Teimour Radjabow auf Anand trifft, ist etwas anderes.
Da gibt es sicher noch andere Anwärter. Die erste Computer-WM im
Chess960 besitzt für mich große Bedeutung. Das Turnier möchten wir
beibehalten, wenn 2006 die nächsten Chess Classic anstehen. Der Termin
ist vermutlich vom 15. bis 19. August.“